Dienstag, 15.11.2005
 

Leben unter der Brücke

Das Leben an der Baustelle wird spätestens 2009 zum Leben unter der Brücke. Andrea und Arno Mittelmeyer blicken in eine ungewisse Zukunft. "Die Geräuschentwicklung ist einfach nicht kalkulierbar." (Fotos: Markus Weißenfels)

RHEINQUERUNG / Die Anwohner am Stahlsweg blicken in eine ungewisse Zukunft. Im Schatten des schillernden 150-Millionen-Projekts bleiben die Sorgen der direkt Betroffenen unsichtbar.

WESEL. Seit 20 Jahren lebt Leo Lessmann in dem kleinen Haus am Stahlsweg. Als er sich dazu durchgerungen hatte, es zu kaufen, blätterte der 49-Jährige eine ordentliche Summe hin. 130 Quadratmeter seines Gartens werden nun für den Bau der neuen Rheinbrücke benötigt. Das erste Angebot ärgert ihn heute noch: "Gerade mal die Hälfte", erzählt Lessmann, schiebt aber schnell hinterher: "Wir sind uns einig." Bauherren und Anwohner arrangieren sich irgendwie. Im Schatten des schillernden Projekts bleiben die Sorgen der direkten Anwohner unsichtbar. Die Zukunft an der Baustelle führt über eine Brücke ins Ungewisse.

150 Millionen Euro Investition, jede Menge Arbeitsplätze und ein Infrastruktur-Bonus für die Region. Das Leben mit der neuen Rheinquerung weckt Hoffnungen, das Leben unter der Brücke wird leiden. Da ist sich Lessmann sicher: "Wir haben mit aktivem Schallschutz gerechnet, jetzt gibt es nur passiven." Dicke Fenster und Türen werden angebracht. "Dafür darf ich nicht rausgehen", erklärt der Grafik-Designer. Eine Entschädigung sei zwar im Gespräch, aber: "Davon kann ich mir auf Lebenszeit Ohrenstöpsel kaufen." Die Messung habe ergeben, dass sich die Werte gerade noch unterhalb der zulässigen Grenze befinden.

Lessmann ist sich der Bedeutung des Mega-Projekts für den Niederrhein bewusst. Aber er glaubt: "Eine Spur bescheidener hätte es auch getan." Das wäre günstiger, leiser und verträglicher gewesen. "Vierspurig ist völlig unnötig." Der Zug ist abgefahren, das weiß er.

2009 soll das Bauwerk fertig sein. Die Vorboten hämmern, derzeit durch die frische Rheinluft über dem grünen Fleckchen Erde am Stahlsweg, und das erste sichtbare Teilstück der gigantischen Konstruktion nimmt langsam Formen an: die Brückenunterführung für den Stahlsweg, der als Deichverteidigungsweg und Zufahrt zum Scholtenhof befahrbar bleiben muss.

Der Baulärm lasse sich ertragen sagt Lessmanns Nachbar Arno Mittelmeyer. Aber: "Wir haben Respekt vor dem, was noch kommt. Niemand kann sagen, wie laut es am Ende tatsächlich wird." Der Telekom-Personalberater wohnt mit Gattin Andrea und den Kindern Arvid (5) und Lovisa (1) nicht ganz so nah an der neuen Trasse wie Nachbar Lessmann. "Doch der Abstand wird auch nur noch ein Drittel des jetzigen betragen."

Mittelmeyer will sich nicht beklagen. "Wir werden schon in die Planung miteinbezogen." Zuletzt wurde der gemeinsame Trinkwasserbrunnen verlegt. Trotzdem stünden die großen Einschnitte noch bevor. "Ab dem Frühjahr werden ein paar Meter weiter gewaltige Erdmassen bewegt. Außerdem stagniert unsere eigene Bauplanung." Ob es Sinn mache, jetzt endlich die Terrasse anzulegen, bezweifelt der 48-Jährige. "Die Geräuschentwicklung, auch die Richtung, ist einfach nicht kalkulierbar. Das bringt erst die Zeit."

Mit der sind sie beim Landesbetrieb Straßenbau NRW derweil hochzufrieden. Der Technische Koordinator Helmut Reinsch: "Wir sind sogar schneller als gedacht." Derzeit passiere draußen nichts bis auf die Konstruktion am Stahls-weg. "Nur technische Planung." Eine gute Nachricht gibt es für die vielen Baustellen-Touristen. Im Dezember läuft ein Statik-Test durch eine so genannte Pfahlprobebelastung mit schwerem Gerät.

Es gibt eine Menge Niederrheiner, denen der Brückenbau Spaß macht. Nur wohnen die sicher nicht am Stahlsweg.


15.11.2005     MICHAEL PASSON

Zeitungsverlag Niederrhein GmbH & Co. Essen Kommanditgesellschaft